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Freistetters Formelwelt: Das Maximum der Legostein-Möglichkeiten

Wissenschaft und gerade auch die Mathematik kann man in gewissem Sinn durchaus als eine Variation des Spielens betrachten. Und manchmal findet man im Spielzeug höchst komplexe Mathematik.

von Florian Freistetter




Es ist kein Wunder, dass zu den allerersten Spielsachen, mit denen sich Kleinstkinder beschäftigen, Bausteine gehören. Sie sind simpel genug, um auch ohne große motorische Fähigkeiten benutzt werden zu können – und bieten doch zugleich Raum für jede Menge kreativer Gestaltung. Dabei reproduzieren sie ein wichtiges Prinzip der Wissenschaft: Komplexe Systeme entstehen aus simplen Bausteinen. Das können wir an Atomen oder Genen in der Natur beobachten und ebenso in der abstrakten Mathematik. Aus den grundlegenden natürlichen Zahlen und ein paar simplen Rechenoperationen lässt sich das komplette Gebäude der Mathematik aufbauen.

Es ist daher nicht überraschend, wenn man die Bausteine auch direkt in der mathematischen Forschung findet. Zum Beispiel in dieser Formel, die mit dem größten Spielzeughersteller der Welt zu tun hat:


Es geht um Legosteine und die Frage, wie viele Objekte man aus n identischen Steinen bauen kann. Ursprung dieser Frage war die Zahl 102 981 500, die von Lego seit 1974 als Anzahl der möglichen Objekte angegeben wurde, die sich aus sechs der typischen 2-x-4-Steine bauen lassen. Berechnet hat sie damals Jørgen Kirk Kristiansen, ein Chemiker und Enkel des Firmengründers. Er hatte die mehr als 100 Millionen Kombinationen als die Untergrenze aller Möglichkeiten bestimmt; doch in der Werbung des Konzerns wurde daraus eine exakte Zahl der potenziellen Kombinationen. Man kann sie auch heute noch an vielen Stellen finden, wenn es darum geht, die kreative Vielfalt des Spielzeugs zu beschreiben.

Tatsächlich wurden hier aber nur die Objekte gezählt, in denen alle sechs Steine übereinandergestapelt werden, nicht jedoch die zusätzlichen Kombinationen, bei denen niedrigere Objekte gebaut werden. Berücksichtigt man die ebenfalls, kommt man auf 915 103 765 Variationen, wie dänische Mathematiker 2005 herausgefunden haben. In einem Fachartikel aus dem Jahr 2016 hat sich Søren Eilers von der Universität Kopenhagen der Sache noch einmal im Detail angenommen und unter anderem die obige Formel abgeleitet.

Wenn man von nur zwei 2-x-4-Steinen ausgeht, dann gibt es 46 Möglichkeiten, sie aufeinanderzusetzen. Zwei davon sind symmetrisch gegenüber einer Rotation von 180 Grad, und die restlichen 22 sind paarweise symmetrisch. Wenn man Objekte, die durch simple Rotation ineinander überführbar sind, als identisch betrachtet, kommt man bei zwei Steinen also auf 24 unterschiedliche Konstruktionsmöglichkeiten. Das ist auch die Grundlage für die Formel: Fixiert man einen Stein als Basis, hat man 46n – 1 Möglichkeiten, die restlichen n – 1 Steine übereinanderzuplatzieren. 2n – 1 davon sind symmetrisch, der Rest davon gruppiert sich in Paaren. Für sechs Steine ergibt die Formel die anfangs erwähnten 102 981 504 Möglichkeiten (der Unterschied von 4 ist wohl auf ein Rundungsproblem der ursprünglichen Rechnung aus dem Jahr 1974 zurückzuführen).

Das sind allerdings, wie schon erwähnt, nicht alle Möglichkeiten. Die haben Eilers und seine Kollegen mit einem Computerprogramm berechnet; eine exakte mathematische Formel hat sich als erstaunlich schwer ableitbar herausgestellt. Die Arbeit von Eilers mit dem Titel »The LEGO Counting Problem«, veröffentlicht 2016 im Fachjournal »The American Mathematical Monthly«, ist ohne professionelle Kenntnisse der Mathematik kaum verständlich.


Man muss sie aber auch gar nicht verstehen, um Spaß am Spiel zu haben. Genau das ist ja das Schöne: Simple Bausteine stecken voller Potenzial, das Kleinkinder ebenso wie ausgewachsene Mathematikerinnen und Mathematiker begeistern kann. Und was gibt es Besseres, als die aus einfachen Regeln entstehende Komplexität der Natur in Spiel oder Forschung nachzuvollziehen? Ich jedenfalls werde mich nun zu ein paar »Berechnungen« ins Spielzimmer zurückziehen.


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